Rot und Schwarz von Stendhal
Rot und Schwarz von Stendhal stellt eines der Standardwerke der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts dar. Die Gründe dafür sind dreierlei: Da ist zum Ersten die romantische Tragik des Helden; zum Zweiten die Analyse der französischen Gesellschaft zur Zeit der 1830er Revolution verbunden mit einer für die damalige Zeit schonungslosen Kritik an Klerus und Klassengesellschaft; zum Dritten die Sympathie des bürgerlichen Publikums für einen bürgerlichen Helden, der eine erotische Fehde mit der Aristokratie austrägt.
Der Inhalt
Monsieur de Rênal, ein kleiner Landadliger und Bürgermeister der fiktiven Stadt Verrières an der Schweizer Grenze, will innerhalb des Ortes sein Renommee steigern und legt sich daher für seine Kinder einen Privatlehrer zu. Dafür erwählt er den 18-jährigen Julian Sorel, den ungeliebten Sohn eines ebenso armen wie gierigen Sägemüllers. Dieser verachtet Julian wegen dessen körperlicher Schwäche und der Vorliebe für Bücher, in die der von seinen älteren Brüdern regelmäßig schikanierte Julian sich in seiner Weltflucht zurückzieht. Julians wichtigste Bezugsperson ist der alte Pfarrer Chélan, der ihm Unterricht in Latein und Theologie erteilt. Julian hat ein photographisches Gedächtnis und kann ganze Bibelpassagen auswendig vortragen, wodurch er sich schnell Anerkennung erwirbt und auch die Familie Rênal beeindruckt. Aufgrund seiner niedrigen Herkunft, empfindet Julian einen tiefsitzenden Hass auf seine aristokratische Gastfamilie. Seinen Besitzneid muss er im Hause des royalistischen Provinzpolitikers aber ebenso verbergen wie seine bonapartistische Gesinnung.
Die schöne und gutherzige Madame de Rênal empfindet erst Fürsorge und schließlich Liebe für den schüchternen jungen Mann, der ihre Kinder unterrichtet, und schließlich beginnt sie ein Verhältnis mit ihm. Während für Louise de Rênal ihre Hingabe im Vordergrund steht, ist Julian von dem Ehrgeiz getrieben, als Plebejer eine Aristokratin zu verführen, wodurch seine durchaus vorhandene Liebe nie wirklich volle Gewalt über sein Gefühle erlangen kann. Die Gutherzigkeit der religiösen und liebevoll naiven Louise und die Kälte des von Karrierewünschen getriebenen Julians ist Stendhal dabei viele Seiten wert. Der Roman nimmt sich ausgiebig Raum für die Irrungen und Wirrungen des Herzens. Von diesen ist auch Elise, die Kammerjungfer von Madame de Rênal ergriffen, die sich ebenfalls in Julian verliebt. Aus Eifersucht informiert sie schließlich Monsieur de Rênal in einem anonymen Brief über die Affäre seiner Frau mit dem Hauslehrer. Es gelingt Madame de Rênal, den Argwohn ihres Gatten zu zerstreuen, aber Julian muss das Haus verlassen.
Auf Vermittlung des Pfarres Chélan kann er in Besançon in das Priesterseminar eintreten, das unter der Leitung des überaus strengen Abbé Pirard steht. Er gerät hier in den Grabenkrieg von Abbé Pirard und dem Großvikar von Frilair, also von Jansenisten und Jesuiten, die sich gegenseitig belauern und den Einfluss streitig machen. Julian ergreift eher zufällig Partei, denn eigentlich ist ihm Kirche und Religion im Grunde genommen vollkommen gleichgültig. Der nach äußerlichem Anschein so fromme junge Mann, der die Bibel auswendig kann, trägt keinerlei Glauben in seinem Herzen, sondern wählt den Priesterberuf einzig und allein, weil dies die einzige Karrieremöglichkeit ist, die er als Besitzloser hat, da er ein weltliches Studium nicht finanzieren kann und die Offiziersposten beim Militär den Adligen vorbehalten sind. Und das ist auch der Grundtenor von Stendhals selbst so benannter Chronik des 19. Jahrhunderts: Der Bonapartist und Atheist Julian muss beständig heucheln, um im restaurativen Frankreich Karriere machen zu können.
Dabei ist er im Priesterseminar in guter Gesellschaft, denn bis auf ganz wenige Ausnahmen haben sowohl die leitenden wie die lernenden Geistlichen nur weltliche Interessen im Kopf: Wie können sie eine lukrative Pfarrei erlangen? Wie können sie es zum Bischoff bringen? Was gibt es zum Mittagessen? Julian erfährt im Seminar eine ähnliche Ausgrenzung wie schon innerhalb seiner Herkunftsfamilie. Er wird ausgeschlossen und gemobbt, erwirbt sich kraft seiner intellektuellen Überlegenheit aber die Anerkennung des ebenso strengen wie moralisch einwandfreien Abbé Pirard.
Auf dessen Vermittlung wird er Privatsekretär des Marquis de la Mole, Pair von Frankreich, und Vertrauter des Königs. Julian ist nun in Paris als geschäftlicher Vertrauter eines Pariser Hochadligen angekommen, in dessen Haus er wohnt, an dessen Tafel er isst und in dessen Salon er die vornehmen Manieren aristokratischer Dandys trainiert. Dies gelingt ihm mit Bravour und er erringt die Aufmerksamkeit der 19-jährigen Tochter des Marquis. Der ebenso schönen wie verwöhnten Mathilde de la Mole ist ein so stolzer Hochmut anerzogen worden, dass sie für ihre adligen Kavaliere nur Langeweile empfindet. Um der gepflegten Salontristesse ihres Daseins die Note heroischer Tragik zu verleihen, beginnt sie eine Romanze mit dem bürgerlichen Sekretär ihres Vaters.
Ihrer hochmütigen Natur entsprechend erlahmt Mathildes Interesse sofort, sobald sie der Erwiderung ihrer Gefühle sicher ist und ähnlich wie bei der Schilderung von Julians Affäre mit Madame de Rênal walzt Stendhal auch hier die Techniken und Taktiken der Liebe und Verführung aus, die Julian sich einfallen lassen muss, um sich in Mathildes Gunst zu erhalten. Dieser Ausführlichkeit wegen haben Rezensenten darauf hingewiesen, dass der Name Sorel rückwärts als l’éros zu lesen sei. Ist Mathilde von Julians stolzem Wesen ergriffen, so ist ihr Vater von dessen Intellekt eingenommen. Der Marquis fördert Julians persönliches Fortkommen, setzt aber ansonsten alles daran, bürgerliches und proletarisches Aufbegehren zu unterdrücken. So wird Julian im Dienst des Marquis zum Agenten einer aristokratisch-klerikalen Verschwörung, die eine ausländische Intervention zur Niederwerfung von Aufständen in Frankreich zum Ziel hat. Julian paktiert ohne alle Gewissensbisse mit dem Klassenfeind, solange es dem eigenen Vorankommen dient.
Der Roman verfolgt das Thema der politischen Intrigen aber nicht im Detail, auch spart er – seltsam genug für einen Roman der im Paris des Jahres 1830 spielt – die Revolution aus. Wenn er das tut, wo doch der Klassengegensatz durchgängiges Thema des Buches ist, so kann der Grund nur darin liegen, dass Stendhal die weitere Handlung eben stellvertretend für die revolutionären Ereignisse verstanden wissen wollte. Diese sieht so aus: Mathilde wird schwanger, der erboste Vater will nach langem Zögern schließlich Julian mit einem Offizierspatent und einem Adelstitel in den Stand erheben, der seiner Tochter würdig ist. Doch nach Erhalt eines Briefes von Madame de Rênal, der Julian als berechnenden Verführer wohlhabender Frauen denunziert, zieht er alles zurück und lässt Julian, der sich endlich am Ziel seiner ehrgeizigen Träume wähnte, fallen. Dieser rächt sich, indem er Madame de Rênal erschießt. Zwar überlebt sie, dennoch wird wegen Mordversuchs er zum Tod auf der Guillotine verurteilt. Mathilde de la Mole trauert um den Geliebten und bestattet dessen abgeschlagenen Kopf in einer Berghöhle. Auch Madame de Rênal liebt ihn noch immer und stirbt kurz nach dem Tod ihres Geliebten an gebrochenem Herzen.
Vorlage und Hintergründe
Unmittelbare Vorlage für die Handlung war die „Affäre Berthet". Antoine Berthet, Sohn eines Schmieds, wurde ebenso wie Julian Sorel von einem Priester gefördert. Vom Priesterseminar wechselte er als Hauslehrer zur wohlhabenden Familie Michoud. Nach einer mutmaßlichen Affäre mit der Dame des Hauses wurde er entlassen. Aus Rache erschoss er sie während eines Gottesdienstes. Für dieses Verbrechen wurde er am 23. Februar 1828 auf der Guillotine hingerichtet. Ein Jahr später begann Stendhal mit der Niederschrift des Romans. Offenbar hat Stendhal in der zugrundeliegenden „Affäre Berthet“ eine Geschichte von entsprechender Symbolkraft für die politische Entwicklung Frankreichs gesehen, dass er sie für seinen Roman mit dem Untertitel Chronik des 19. Jahrhunderts adaptierte. Antoine Berthet gibt gewissermaßen die Silhouette für Julian Sorel ab, ausgemalt hat Stendhal ihn mit persönlichen Eigenschaften. Julians Napoleonbegeisterung, seine Verachtung von Religion und Restauration, seine Belesenheit und seine Neigung zu Amouren lassen die Identität des Autoren deutlich hindurchschimmern.1 Diese Überfrachtung führt zu einer charakterlichen Heterogenität des Helden, die dem Buch insgesamt abträglich ist.
Rot und Schwarz ist ein psychologischer Roman, ohne auf diesem Terrain komplett überzeugen zu können. Die Hauptfigur Julian Sorel ist in ihrer Vielschichtigkeit schlicht unglaubwürdig. Er ist blass und schwächlich, hochintelligent und gutaussehend, ehrgeizig und stolz, heuchlerisch und berechnend, leidenschaftlich und mutig. Insbesondere die letzte Eigenschaft ist in seiner Geschichte nicht begründet. Julian wurde 18 Jahre vom lieblosen Vater und seinen rücksichtslosen Brüdern geprügelt und schikaniert. Dennoch reüssiert er innerhalb weniger Monate zum ebenso leidenschaftlichen wie gewieften Don Juan, der durch seinen Mut, seinen Stolz und seine Beredsamkeit die schönsten und begehrtesten Frauen gefügig macht. Wo nimmt ein Mensch, der niemals Liebe, sondern immer nur Verachtung und Herabsetzung erfahren hat, das Selbstbewusstsein her, das notwendig ist, um zum furchtlosen Eroberer ihm durch Standesgrenzen eigentlich verwehrter Frauen zu werden?
Dass er aufgrund seiner überlegenen Intelligenz und seiner von Kindheit an entwickelten Bibliomanie als aufstrebender Bildungsbürger auch in Adelskreisen Karriere machen kann, ist durchaus vorstellbar. Aber dass der Parvenu in der fremden Welt der Salons des französischen Hochadels innerhalb kürzester Zeit gänzlich unbefangen auftritt und bald sogar mit mondäner Herablassung brilliert, ist wenig glaubhaft. Alle anderen Figuren des Romans sind zwar eindimensionaler, aber auch deswegen besser gelungen. Chélan und Abbé Pirard, die beiden aufrechten Geistlichen innerhalb einer verdorbenen und korrupten Kirche, sind hölzerne Moralapostel. Monsieur de Rênal ist als feister Opportunist die Verkörperung des biederen Provinzadels. Madame de Rênal ist als für Kinder und Kirche erzogene Landadlige eine aufrichtig Liebende. Der Marquis de la Mole als am königlichen Hofe verkehrender Hochadliger ist ein über den Dingen stehender Grandseigneur. Seine Tochter Mathilde de la Mole ist aufgrund ihrer hohen Geburt, ihrer Schönheit und Schlagfertigkeit die Dekadenz in Person, die in ihrer Hybris sogar die eigene Standeszugehörigkeit aufs Spiel setzt, um ihrer gepflegten Langeweile zu entgehen. Alle diese Figuren sind mehr oder weniger aus einem Guss und überzeugen als Ausprägungen ihres Standes und ihrer Klassenzugehörigkeit. Julian soll zu viel auf einmal sein und ist dadurch schlicht unglaubwürdig.
Die Bedeutung des Buches liegt aber auch weniger im Psychologischen, sondern im Politischen. Der Roman stellt eine schonungslose Kritik der postnapoleonischen Restauration dar. Der Adel wird als dekadent und schwächlich skizziert, noch schlechter kommt der Klerus weg, dessen doktrinäre Bigotterie als durch und durch korrupt und intrigant geschildert wird. Die Handlung ist unmittelbar am Vorabend der Revolution von 1830 angesiedelt, die der restaurativen Politik von Karl X. ein Ende setzte. Die Revolution ist insofern auch Teil der Handlung, als der Adel in beständiger Angst vor einem Wiederaufleben jakobinischer Umtriebe lebt. Dementsprechend wurde auch versucht, das Buch in dieser Hinsicht zu vermarkten, was zu dem neuen Untertitel Chronique de 1830 führte. Freilich kann das Buch als Gleichnis für die historische Entwicklung von 1830 nicht überzeugen, was wohl daran liegt, dass Stendhal es zu großen Teilen noch vor der Revolution geschrieben hatte. Dass der hoffärtig gewordene Kleinbürger am Ende geköpft wird, will nicht als Metapher für die Revolution einleuchten, in der das Bürgertum doch einen Zugewinn an politischer Teilhabe zu Ungunsten der Ultraroyalisten durchgesetzt hat.
Aber der von Stendhal ursprünglich gewählte Untertitel lautete anders, nämlich Chronique du XIXe siècle. Und in diesem Sinne mochte Stendhal seine Geschichte von dem Müllersohn Julian Sorel, der adlige Damen verführt und am Ende mit dem Leben büßen muss, dann wohl auch verstanden wissen: als Gleichnis für die politische und gesellschaftliche Entwicklung des postnapoleonischen Frankreichs. Das Plädoyer von Julian Sorel am Ende des Buches, als er sich vor Gericht für den Anschlag auf Madame de Rênal verantworten muss, weist die Richtung. Julian bekennt sich vor Gericht des Mordes schuldig, klagt aber gleichwohl seine Ankläger an, sie machten ihm auch den Prozess, weil er als Plebejer in höchste gesellschaftliche Kreise vorgedrungen sei. Dieses Eindringen des Bauernlümmels in die Adelsgesellschaft ist das Thema des Buches.
Die Anspannung der Klassengegensätze lassen das Frankreich der Restauration vibrieren. Diese Anspannung hat ihre Ursache in einer Reihe von Gründen, die in dem Roman ausführlich abgehandelt werden: Da ist zunächst die mangelnde Wehrhaftigkeit des Adels, dem Leidenschaft und Heldentum abhandengekommen sind, wie Mathilde de la Mole immer wieder beklagt. Darüber hinaus ist die ideologische Legitimation der Adelsherrschaft – die Religion – ausgehöhlt, was Stendhal in der minutiösen Zeichnung korrupter Kirchenfürsten wie dem Großvikar von Frilair und dessen permanenten Taktieren und Ränkespielen ausführt. Schließlich der Bildungszuwachs der Besitzlosen, die kraft ihres intellektuellen Kapitals Adlige und Wohlhabende überflügeln können, wofür Julian als Beispiel steht.
Inwiefern taugt nun das Liebesleben des Julian Sorel als Chronik des 19. Jahrhunderts? Analogisiert man Julian mit dem unteren Stand der Bauern und Handwerker, dann handelt die Geschichte vom scheiternden Ungestüm des Pöbels beim Versuch, sich die Privilegien des Adels anzueignen. Dieses Ungestüm entspricht dem Unwillen der Plebejer, sich mit den Adelsprivilegien und der damit einhergehenden eigenen Zurücksetzung weiterhin abzufinden. Was seit dem Mittelalter, in das sich die Familie de la Mole und ihre Freunde immer wieder zurücksehnen, garantiert war, nämlich die gesellschaftliche Übereinkunft der göttlich legitimierten ständischen Ordnung, ist seit der französischen Revolution abhandengekommen. Das Frankreich des 19. Jahrhunderts ist nicht mehr in der Lage, gesellschaftlich komplett hinter die Revolution zurückzufallen.
Die ausbeuterische Adelskaste ist ihrerseits angewiesen auf die sie ernährenden unteren Stände, was sich in der Liebesbeziehung der adligen Frauen zu Julian sinnfällig widerspiegelt. Gleichwohl ist diese Angewiesenheit aufgrund des ihr inhärenten Ungleichgewichts zutiefst konfliktbeladen und endet in der Katastrophe. Nicht nur für Julian, sondern auch für seine Geliebten. Denn auch die beiden adligen Frauen und ihre Familien, die sich auf ihn eingelassen haben, büßen. Madame de Rênal stirbt vor Gram und beider Frauen Affären werden öffentlich. Ihre Familien verlieren so am Ende ihren Ruf und ihr Renommee, also genau das, was ihnen am wichtigsten war und worum die jeweiligen Familienvorstände Monsieur de Rênal und der Marquis de la Mole die ganze Zeit gerungen haben. In Stendhals Chronique du XIXe siècle als romantische Behandlung des Klassenkonflikts verlieren letztendlich also beide Seiten.
Der Titel
Der Untertitel des Buches will sich also nur mit einiger Interpretation erschließen; der Obertitel gibt noch mehr Rätsel auf: Le Rouge et le Noir ist als Titel hinsichtlich seiner Bedeutung nebulös. An keiner Stelle im Buch wird eine eindeutige Begründung angeboten. Es bleibt dem Leser überlassen, Titel und Inhalt mit einander in Bezug zu setzen. Die gängige Erklärung leitet sich von einem Hinweis von Paul-Émile Durand-Fourges her, den dieser unter dem Pseudonym Old Nick am 1. April 1842 in Le National veröffentlichte. Der Freund des Autors erklärte, Stendhal habe ihm kurz vor seinem Tod dargelegt, das Rot bedeute, dass Julian zu früheren Zeiten ein Soldat gewesen wäre, aber zu der Zeit, in der er lebte, war er gezwungen die schwarze Soutane zu nehmen.2 Das Schwarz als Farbe der Priestersoutane findet tatsächlich des Öfteren Erwähnung im Buch und Julian trägt es selbst in seiner Zeit als Seminarist und angehender Priester. Gleichwohl ist Schwarz nicht die Farbe des Klerus. Die jeweiligen Orden haben verschiedene Farben (zumeist Weiß, Grau, Schwarz und Braun) und der höhere Klerus ist vielfach in Rot oder Violett gewandet. Noch abwegiger erscheint Rot als die Farbe des Militärs. Die französischen Soldaten hatten mehrfarbige Uniformen, die dominierende Farbe war Blau. Auch unter Europas Großmächten lässt sich Rot als beherrschende Farbe des Militärs nicht nachweisen. Die Uniformfarben variierten je nach Korps und Waffengattung. Bei den Großmächten gibt es seit dem 18. Jahrhundert zwar dominierende Uniformfarben, aber diese sind von Land zu Land verschieden. Die Preußen trugen zumeist Blau, Österreich vorwiegend Weiß, Russland überwiegend Grün. Einzig in England, über die Jahrhunderte erbitterter Antagonist Frankreichs, ist Rot die dominierende Farbe für militärische Uniformen gewesen.
Oder soll Rot für das Blut stehen, das auf den Schlachtfeldern vergossen wird? Doch kommen keine Schlachten im Buch vor. Tatsächlich ist Julian nur für wenige Seiten am Ende des Buches Soldat. Ansonsten spielt das Militär in dem Buch so gut wie keine Rolle. Aber folgt man Durand-Fourges, dann geht es ja auch nicht um Julians militärische Praxis, sondern um seine militärischen Sehnsüchte. Die hat er zweifellos, aber sie nehmen auch nicht den Platz eines durchgehenden Themas ein, sondern sind Bestandteil seines generellen Karrierestrebens. Was hingegen überragenden Raum einnimmt, ist die Liebe. Immer wieder taucht der Roman ein in die Gefühlswelt seiner Protagonisten, deren jeweilige Seelenlage in allen erdenklichen Details ausgebreitet wird, wobei des hitzige Gemüt oftmals von einer Seite zur nächsten ihren Zustand verändert, ohne dass es auf der Handlungsebene eine Veränderung gegeben hat. Die Bewegung des verliebten Herzens ist durchgehendes Thema des Buches und die Zustandsbeschreibung der liebenden Seele beansprucht mindestens die Hälfte der Seiten des Buches. Insofern spricht viel dafür, dass das Rot des Titels für die Liebe steht. Rot als Farbe der Liebe ist zudem ein geläufiger Allgemeinplatz, was für Rot als Farbe des Militärs nicht gilt.
Wofür steht das Schwarz? Die andere Hälfte des Buches befasst sich im Wesentlichen mit Ehrgeiz und Eitelkeit bzw. deren sozialer Entsprechung, nämlich den Klassenverhältnissen der spätaristokratischen Gesellschaft und den ständigen Versuchen, die jeweils eigene Lage innerhalb dieser zu verbessern. Vor allem die Männer sind von diesem Antrieb beseelt, allen voran Julian Sorel selbst. Sein verbissener Ehrgeiz, gepaart mit einem tiefsitzenden Ressentiment gegenüber allen Vornehmen und Wohlhabenden prägen seinen Charakter und stehen mit seiner Verliebtheit immer wieder im Konflikt. Ebenso sind fast alle anderen Figuren von Gier oder einem permanenten Distinktionsverlangen getrieben: Julians liebloser Vater schachert ungeniert bei jeder sich bietenden Gelegenheit, um für sich einen möglichst großen finanziellen Vorteil herauszuschlagen; Monsieur de Rênal nimmt Julian nur deshalb in seine Dienste, um zu demonstrieren, dass er sich einen Hauslehrer für seine Kinder leisten kann; ebenso der Großvikar von Frilair, der nach Kräften intrigiert, um Bischoff zu werden; und schließlich der Marquis de la Mole, der von dem Wunsch beseelt ist, seine Tochter zur Herzogin hinaufheiraten zu sehen.
Bei aller Kritik an den herrschenden Verhältnissen, hat Stendhals kein tiefergehendes Interesse an den sozioökonomischen Voraussetzungen der Klassengesellschaft. Als Motive für die Handlung reichen Stendhal das Rot – die Liebe – und das Schwarz – die Eitelkeit: Beides lebendig sowohl in der Gesellschaft wie in den Gefühlen der Individuen. Stendhal überführt somit den Klassenkonflikt auf der Handlungsebene des Buches nicht primär ins Politische, sondern in eine Liebesgeschichte. Der Klassenkampf wird in die Herzen der Liebenden verlagert und säht dort Zwietracht und Misstrauen. Genau so wenig wie die Angehörigen der höheren Stände die Liebe oder erst recht die Ehe einer Adligen mit einem niedriggeborenen Handwerkersohn tolerieren, ist Julian in der Lage, die ihn liebenden Frauen anders denn als Beute, die der Plebejer aus der Sphäre der Aristokraten raubt, zu betrachten. Solcherart hat Stendhal die romantische Tragödie zu einer politisch-amourösen Fragestellung zugespitzt, der für die Rezeption des Romans von entscheidender Bedeutung war: Kann die Liebe Klassengegensätze überwinden oder überwindet die Klassengesellschaft die Liebe?
- Der Name von Julians hochadliger Geliebter Mathilde de la Mole dürfte an Matilde Dembowski angelehnt sein. Eine italienische Gräfin aus dem Geschlecht der Visconti, in die Stendhal verliebt war.
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„Le Rouge signifie que, venu plus tôt, Julian, le héros du livre, eût été soldat; mais à l`époque où vécut il fut forcé de prendre la soutane; de la Noir“ vgl. Irène Simon: Chromatisme historique dans `Le Rouge et le Noir´: Julian et Mathilde. In: Stendhal Club 117, S. 1-21; 1987. Zitiert nach Naomi Lubrich: Wie kleidet sich ein Künstler? Stendhal und das Paradox konventioneller Originalität. In: Kulturpoetik, Bd. 14, H. 2, S. 182-204, 2014.