Ein Hungerkünstler von Franz Kafka oder die Artifizierung der Individualität

Ein Hungerkünstler zählt zu den wenigen konstruiert wirkenden Erzählungen Kafkas. Konstruiert in dem Sinne, dass Kafka hier zu wissen scheint, was er sagen will, die Handlung also als bewusst verwendete Metapher im Sinne einer Parabel einsetzt, während viele andere seiner gleichnishaften Geschichten hinsichtlich ihres Bedeutungsgehalts weder für Autor noch Leser eindeutig greifbar scheinen, sondern den Eindruck erwecken, als sei es vor allem des gleichnishafte Bild selbst, das den Autor fasziniert und zur Niederschrift motiviert habe. Die Foltermaschine in der Strafkolonie, die Verwandlung in ein Insekt, der Landarzt, der den Patienten ins Bett gelegt wird, …und viele andere mehr: Diese Bilder wirken wie aus einem (Alp-)Traum; neben ihrer unmittelbar bizarr-beklemmenden Wirkung weisen sie hohes allegorisches Potenzial auf und eignen sich so als zentrales Motiv einer Erzählung, ohne dass diese einen bestimmten Zweck verfolgen muss.

Ein Hungerkünstler funktioniert weniger über solch eine beklemmende Imagination, weniger über das Bild des ausgemergelten Hungernden, sondern über den Kunstgriff, das Hungern, einen Mangel, als Kunst zu begreifen. Diese Idee ist der Kern der Erzählung, das Motiv, das die Handlung vorantreibt. Die Handlung setzt ein auf dem Höhepunkt des Ruhms dieses zweifelhaften Künstlers. Mit seinem Impresario reist er durch alle großen Städte, wo er in einem Käfig öffentlich zur Schau gestellt hungert. Nur zwei Dinge trüben seine Existenz: Die ständigen Zweifel des Publikums, ob er nicht betrüge und heimlich Nahrung zu sich nehme. Und die Begrenzung seines öffentlichen Schauhungerns auf 40 Tage. Diese hat ihm sein Impresario auferlegt, da die Aufmerksamkeit des Publikums nicht länger anhält. Der Impresario ist seine Verbindung zur Welt und gleichzeitig die Ursache dafür, dass Hungerkünstler von dieser nie verstanden wird. Denn der Impresario übertreibt um des Showeffekts willen das Leid, das das Hungern dem Hungerkünstler verursache, maßlos, wobei es tatsächlich der vorzeitige Abbruch der Hungerperioden nach 40 Tagen ist, der den Hungerkünstler leiden lässt. Denn so gelangt er nie dazu, seine Fähigkeiten vollends unter Beweis stellen zu können.

Erst als die Öffentlichkeit jedes Interesse an seinen Hungerdarbietungen verliert und er seinen Impresario verabschiedet, um sich bei einem Zirkus zu verdingen, kann er seinen Traum des unbegrenzten Hungerns verwirklichen. Allerdings unbeachtet von der Öffentlichkeit, denn er wird nicht etwa als Attraktion in der Manege präsentiert, sondern in seinem Käfig zu den Tierställen abgeschoben, wo die Besucher in der Vorstellungspause auf dem Weg zu den Tieren achtlos an ihm vorbeihetzen und niemand zur Kenntnis nimmt, wie er sich einem neuen Rekord und damit seinem Tod entgegenhungert. Je mehr er hungert, desto weniger interessiert sich die Welt dafür und als er sich endlich von dieser Welt gehungert hat, scheint das Personal diesen Umstand sogar zu begrüßen, da der Käfig nun endlich für Wichtigeres, für Interessanteres, zu gebrauchen ist. Nämlich für einen Panther, der nun anstelle des Hungerkünstlers in dem Käfig ausgestellt wird.

Das Große, das Geniale an Kafkas Erzählung liegt nicht zuletzt darin, dass dasjenige, was die Tragik der Existenz des Hungerkünstlers für den Leser so eindringlich spürbar werden lässt, das genau diese Stelle, in der der Panther beschrieben wird, der den Platz des Hungerkünstlers einnimmt, sich so attraktiv liest, dass der Leser also die Schilderung des schönen wilden Tieres der des Hungerkünstlers vorzieht. Die Pointe der Geschichte, wonach der Hungerkünstler, eigentlich keine Befähigung zum Hungern hatte, wenigstens sich dafür keine Überwindung abverlangen musste, sondern einfach nur unfähig zum Essen war, verblasst angesichts der Attraktivität des Panthers, der im letzten Absatz der Erzählung durch die behände Wucht seines Körpers die Zuschauer und den Leser in seinen Bann zieht; in dessen gefletschten Zähnen jene Freiheit zum Leben, also zum Reißen, zum Töten, zum Fressen, faucht, die der Hungerkünstler nur zur Vermeidung des Lebens zu nutzen weiß. Diese Freiheit, die das Instinkttier zur Demonstration seiner Kraft und Wildheit treibt, ist jenes, was den zögernden Zauderer, den chronischen Lebensverweigerer derart überfordert, dass er sie nur zu einem Boykott des Lebens selbst nutzen kann. Die Schilderung des schönen Tieres macht das Elend des Hungerkünstlers umso bitterer als es ja gerade die großen Raubtiere sind, die im Zoo am tragischsten leiden, die es am wenigsten erdulden können, eingesperrt zu sein. Man denke an Rilkes Panthergedicht und an die hospitalisierten Raubkatzen, die in zu kleinen Käfigen ihre irren Kreise ziehen – und mögen sie hier nun gemeint sein oder nicht: der Hungerkünstler ist ärmer dran als sie.

Denn das wilde Tier leidet unter dem Freiheitsentzug, dass es darüber am Leben erkrankt und unglücklich den Ort seiner Sehnsucht, seiner Erlösung jenseits des Gitters weiß; der Hungerkünstler aber leidet an der Freiheit, dass er sich freiwillig in Gefangenschaft begibt, dass er nur hier in diesem Käfig es aushalten kann, dass er diesen Ort der Sehnsucht und Erlösung, diesen Ort der Lebensflucht, der Freiheitsflucht, zum Leben – oder faktisch zum Sterben braucht, als gäbe es „nichts Sinnloseres, nichts Verzweifelteres als diese Freiheit“, wie Kafka es im Schloss formulierte. Desgleichen ist er nicht glücklich, im Käfig gefangen gehalten und ausgestellt zu werden, denn dieses Schicksal eines Kerkerhäftlings ist, da selbst gewählt, gleichfalls eine Manifestation seiner Freiheit. Es gibt keine Erlösung jenseits von ihr. Da sich der Hungerkünstler dieser Freiheit zum Leben nicht gewachsen fühlt, zieht er sich davon zurück, und dieser Rückzug ist das Paradoxe seiner Existenz und der Schlüssel zu Kafkas Erzählung: Das, was er nicht aushalten kann, was ihn offenbar maßlos überfordert, ist das Leben in der Welt. So zieht er sich von der Welt zurück, aber nicht um in einer entrückten Einsiedelei seiner asketischen Lebensverachtung zu frönen, sondern er erwartet für seine Weltflucht den Beifall und die Anerkennung von der Welt.

Die Menschen bleiben das Maß aller Dinge – auch in der Flucht vor ihnen. Diese Flucht geriert sich als Gefangenschaft. Es ist gerade die Kunst, die ihn aus dem Leben wegsperrt, die ihn hindert, am Leben teilzunehmen. Doch was ist diese Kunst? Die pure Lebensverweigerung. Dabei ist er an sich gar kein richtiger Verweigerer, er ist bloß unfähig und stilisiert seine Unfähigkeit als Verweigerung. In ihrer Artifizierung zementiert sie dem Unfähigen seine absurde Existenz, sein Anti-Leben des Nicht-Sprechens, Nicht-Essens, Nicht-Bewegens, Nicht-Schlafens: Ein Asket ohne Glauben, ein Fakir ohne Magie, ein Yogi ohne Botschaft. Es ist der Hunger nur um des Hungerns willen, die pure Entsagung: Einem nur qualitativ beschreibbaren Zustand – die Unfähigkeit, am gemeinsamen Leben der Menschen aktiv teilzunehmen – begegnet der Hungerkünstler quantitativ. Er versucht, die Tage der Entsagung immer weiter zu verlängern. Sich des Unglücks seiner Lage durchaus bewusst, versucht er dieses zu vervollkommnen. Ein Künstler, dessen Performance ein bloßes Dahinvegetieren ist, der derart gemartert und zerquält vor das Publikum tritt, dass es im doppelten Sinne peinlich sei, – was steht diesem Künstler zu? Er will, was alle Künstler wollen: Bewunderung. Doch was erregt er zuerst? Das, was den Künstler am meisten beschämt: Mitleid. Und Widerwille. Hat er Besseres verdient? Was ist das für ein Künstler? Was ist das für ein Mensch? Der Hungerkünstler – offenbar als selbstironische Projektion Kafkas zu seinen Schriftstellerambitionen entstanden – ist einer, der mit seinem Unglück prahlt. Auf der Suche nach Applaus und Anerkennung betritt er nicht die Bühne, eher den Pranger. Identifiziert man das Hungern – diesen Zustand der Not und des freiwilligen Ausgestoßen-seins – mit dem Schreiben, ergibt sich der Sinn des Hungerns, des Ent-Sagens als das Ausdrücken bitterer Empfindungen: Das Hungern ist kein quantitativer Mangel, sondern eine existenzielle Qualität. Es ist kein wie auch immer gearteter Appetit, der durch irgendetwas befriedigt werden kann; dieser Hunger ist unstillbar, er ist das fortwährende und quälende Gefühl des Ungenügens im Angesicht der eigenen Möglichkeiten – im Angesicht der Freiheit.

Die Artifizierung der Individualität bei Franz Kafka

Der appetitlose, kommunikationsgehemmte, an Schlaflosigkeit leidende Kafka, dessen psychisches Gebrechen sich in körperlicher Angegriffenheit somatisierte, der sich von aller Welt zurückzog, um dann seine Seelenqual vor ihr auszubreiten, hat in der Parabel des Hungerkünstlers, in dieser Reflexion auf sein eigenes Künstlertum, die analytische und zugleich selbst ekelnde Anamnese derjenigen Künstlerexistenz entworfen, die paradigmatisch für den Typus des modernen Künstlers schlechthin geworden ist. Die eigene Not wird artifiziert, die persönlich empfundene psychische Pein wird der Kunst für würdig befunden, das Intimste – die eigene, meine Qual, wird für publikumstauglich beschieden – aus der eigenen Krise wird eine Kunst gemacht. Das Selbstische am künstlerischen Ausdruck, die Spuren der Individualität, der persönliche Stil, bleibt nicht mehr bloß Stil, sondern wird Inhalt, wird Botschaft und wesentliche Aussage des Werks; dessen Triebfeder ist es ohnehin dazu. Der Zustand der eigenen Existenz wird bei Kafka zum Gegenstand künstlerischen Schaffens, wird zum Zweck, dessen Kostbarkeit es wert sei, dass er ihm das eigene überragende Talent weiht, dass er ihm sein außerordentliches Schaffen opfert. Die persönlichen Sehnsüchte, die eigenen Ängste und Nöte, einschließlich der Not, außer sich selbst nichts zu haben, werden zum Beweggrund künstlerischer Produktion.

So kreisen die Kafkaschen Gleichnisse immer wieder um seine eigene Person, um sein Ich, seine Individualität, dass die dichterische Ausbildung dieser Nabelschau eine persönliche Intensität und Authentizität erlangt, die in der Literaturgeschichte bis dahin unerreicht war. Nie war ein Mensch so nah. So nackt, so verletzlich, so intim, dass man glaube, Franz Kafka, den armen Menschen, diese geschundene Seele, in seinem Werk wiederzufinden, dass man glaube, ihn zu kennen, dass man für ihn Nähe und Behutsamkeit zu empfinden beginnt, dass man ihm, wenn es denn nur möglich wäre, helfen möchte; so nah, so persönlich, dass man schließlich nicht nur ihn, Franz Kafka, in diesem einem auf den Leib rückenden Werk zu finden meint, sondern endlich auch sich selbst, so dass sich die paradoxe Rezeptionsrealität ergibt, dass diese Gleichnisse, die doch ganz offenbar auf das Leben eines bestimmten Menschen, nämlich den Autor selbst, bezogen sind, bei dem Leser bewirken, diese auf sich zu beziehen, als seien sie für ihn geschrieben, dass also Millionen von Lesern unter dem Eindruck stehen, als seien diese Parabeln verfasst worden, um gerade ihre persönliche Situation wiederzugeben, als seien sie nur für sie und niemanden sonst entstanden.

Diese am Beginn der Moderne stehende Artifizierung der Individualität manifestiert sich quer zu den Disziplinen; ihre herausragendsten Exponenten sind Kafka in der Literatur, Van Gogh in der Malerei, Nietzsche in der Philosophie; sie sind zu den paradigmatischen Figuren einer neuen Seelen- und Geisteshaltung geworden: Die eigene Person, die eigene Persönlichkeit wird Impetus und Movens künstlerischer und intellektueller Produktion. Wie in den Gemälden die Köpfe der Dargestellten über die Jahrhunderte immer individueller werden, wie die Porträtierten allmählich aus ihrer durch Ornat und Attribute verkörperten ständischen Repräsentanz sich lösten, wie ihre Haltung und Gesichter zunehmend innerlich bewegter werden, wie sich desgleichen die Dichtung dem Innenleben ihrer Helden zuwendet und die Musik zum Ausdruck psychologischer Regungen wird, vollzieht sich eine im Spiegel der Kunst deutlich ablesbare Individuation des Menschen. Diese neue Seelen- und Geisteshaltung erfordert eine neue Kunst, eine Kunst, die nicht mehr von Göttern und Königen handele, die nicht mehr zur Beweihräucherung der Himmlischen und Mächtigen genutzt wird, sondern zum Ausdrucksmittel der eigenen Gefühle. Das eigene Erleben wird in den Stand der Kunstwürdigkeit erhoben, der klassische Held wird von der Bühne vertrieben und durch eine Figur ersetzt, deren Erlebnishorizont mit der des sie erschaffenden Künstlers ungefähr äquivalent ist, was zur Folge hat, dass dem Helden ein moderner Jedermann nachfolgt, ein Durchschnittsmensch, der sich eben nicht durch große Taten, durch außerordentliche Kühnheit auszeichnet, sondern durch das, was den Durchschnittsmenschen im wirklichen Leben umtreibt: Skrupel, Ängste, Sehnsüchte, Sorgen und der Versuch, diese zu bewältigen – das Abenteuer wird abgelöst von der Therapie.

Dieses Primat der Selbsterfahrung weist alle einheitsstiftenden Ansprüche zurück, es duldet keine Unterordnung des Individuums unter religiöse oder politische Belange, so nachdrücklich oder sogar brutal sie diese von ihm auch verlangen mögen. Er verweigert sich einer kollektivierenden Verpflichtung auf ein höheres Ideal und setzt dagegen das eigene Ich, das (einsam, unglücklich und verlassen) über allem steht, als zum selbstzweckhaften Prinzip des bürgerlichen Individualismus geronnen; freilich nach Art und Eigenheit des Individualismus: ohne ausdrückliche und mithin kollektivierende Proklamation. Nachdem die Kunst (ebenso wie die Philosophie) Jahrhunderte lang Gottesdienst war, tritt sie in den Dienst des Einzelnen. Das Individuum hat sich an die Stelle Gottes gesetzt und der Mensch trägt schwer an der Welt. Eine Schwermut, für die Kafka paradigmatisch ist, und die sich tausendfach reproduziert sieht in den Werken der Zeitgenossen und der nachfolgenden Generationen.

Und tatsächlich findet sich bei den Rezipienten der Reflex der Bewunderung, je authentischer einer sein Seelenleid mitzuteilen in der Lage ist. Als hätte der Künstler eine Stellvertreterfunktion, die empfundene Schwermut zum Ausdruck zu bringen. Beim schöpferischen Bohemien wird eine gewisse Exzentrik nicht nur geduldet, sondern geradezu erwartet, gleich charismatischen Heilsbringern aus religiöseren Tagen darf und soll er an sich leiden, als litte er nicht nur an sich, sondern an der ganzen Welt. Dieses Leiden ist im Schaffen von Kafka so offenbar, dass es sich gleichsam um einen Seelenspiegel zu handeln scheint, in den hineinzuschauen jede ihrer Freiheit und somit auch ihrer Einsamkeit bewusste Seele sich aufgefordert fühlt. Ist doch das Schaffen dieser Seele so unübersehbar Ausdruck ihrer Deformation, dass der Eindruck gewonnen werden muss, als wäre die Expressivität und Fetischisierung der Individualität, die dieses Schaffen ja vor allem ist, an die Depression gekoppelt. Als sei die Individualität an sich eine melancholische Seinsform.

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