Die ungleichmäßige Behandlung von Zeit in Boris Pasternaks Doktor Schiwago und die politischen Hintergründe

Boris Pasternaks Roman Doktor Schiwago beschreibt die Lebensgeschichte des Arztes und Dichters Juri Schiwago in den Revolutionsjahren Russlands. Sein Thema ist also ein politisches, obwohl der Roman keinen politisch Handelnden in den Mittelpunkt stellt, sondern einen sich politisch Enthaltenden. Der Philanthrop Juri ‚Schiwago‘ (russisch für ‚lebendig‘) ist trotz oder vielleicht auch wegen seiner vielseitigen Begabungen nicht in der Lage oder wenigstens nicht gewillt, politisch Stellung zu beziehen. Dass Pasternak einen unpolitischen Menschen zum Helden eines Romans über die politische Entwicklung Russlands macht, bringt zum Ausdruck, was die kommunistische Revolution, was die Totalität dieses Umsturzes charakterisiert: Niemand kann sich der Revolution entziehen, sie ergreift das gesamte Land, jeden Menschen, jeden Körper, jede Seele zwingt sie in die Auseinandersetzung.

Zusammenfassung der Handlung

Der Roman gliedert sich in zwei Bücher; die Handlung des ersten Buches setzt ein mit dem Tod der Mutter des 10-jährigen Juri Schiwago. Wenig später nimmt sich sein Vater das Leben. Bei diesem Selbstmord spielt dessen Anwalt Viktor Ippolitowitsch Kamarowski eine unrühmliche Rolle, indem er den Vater in seinem unheilvollen Vorhaben bestärkt. Der Vollwaise Juri wächst bei begüterten Verwandten auf und heiratet später deren Tochter Tonja. Juri Schiwago ist hochbegabt, studiert Medizin und erntet Anerkennung für seine Betätigung als Dichter und Schriftsteller. Im ersten Buch des Romans wird parallel zur Kindheit und Jugend Juri Schiwagos der Werdegang anderer Figuren angerissen: Seine besten Freunde Mischa Gordon und Nika Dudurow, der spätere Revolutionär Pawel Antipow und vor allem dessen spätere Frau und Juris Geliebte Larissa. Pawel Antipows Vater wurde nach der Revolution von 1905 verbannt. Der Junge wächst bei der revolutionär gesinnten Eisenbahnerfamilie Tiwersin auf. Pawel und Larissa kennen sich von Kindheit an und sind einander sehr nahe. Laras alleinstehende Mutter wird von Kamarowski ausgehalten, der auch die jugendliche Lara zu seiner Geliebten macht. Sechs Jahre später will Lara ihn erschießen, stattdessen schießt sie auf den Staatsanwalt Kornakow, der nach der Revolution von 1905 harte Urteile gegen Pawels leiblichen Vater Pawel Ferapontowitsch Antipow und Pawels Gastvater Kiprijan Tiwersin durchgesetzt hatte. Doch der einflussreiche Kamarowski kann seine frühere Geliebte vor einer harten Strafe bewahren.

Pawel Antipow heiratet Lara und sie bekommen ein Kind. Doch als der Erste Weltkrieg ausbricht, meldet Pawel sich freiwillig, weil er in der Ehe mit Lara trotz der gemeinsamen Tochter unglücklich ist. Auch Juri und Tonja bekommen ein Kind, auch Juri muss in den Krieg. Er wird eingezogen und einer Sanitätseinheit zugeteilt. Dort trifft er Lara und beide nähern sich einander an. Sie hat sich als Krankenschwester zum Militär gemeldet, weil sie auf der Suche nach Pawel ist, der nach einem Fronteinsatz als verschollen gilt. Während des gemeinsamen Dienstes im Lazarett bricht die Februarrevolution aus, unter den kriegsmüden Soldaten kommt es zu Meutereien. Auch Juri Schiwago entfernt sich von der Truppe und geht zu seiner Familie nach Moskau. Als er dort ist, bricht die Oktoberrevolution aus. In Moskau herrscht Mangel. Schiwago und seine Familie hungern und er erkrankt an Typhus. Sein Halbbruder Jewgraf, ein einflussreicher Bolschewik, erscheint und unterstützt ihn und seine Familie mit Lebensmitteln.

Weil die Familie wegen ihres früheren Wohlstands ins Visier der Bolschwiki zu geraten droht, flieht sie auf Anraten von Juris Halbbruder in den Ural, wo sie glauben, vor den neuen Machthabern sicher zu sein. Auf dem Weg dorthin fällt Juri dem roten Kommandeur Strelnikow in die Hände, der ihn nach kurzem Verhör wieder gehen lässt. Strelnikow ist Laras verschollener Ehemann Pawel Antipow, der, obwohl nicht Mitglied der kommunistischen Partei, im Bürgerkrieg gegen die Weißen eine bedeutende Rolle spielt. In Sibirien kämpft er gegen die von den Tschechoslowakischen Legionen unterstützte Samara-Regierung der Konstituierenden Versammlung. Eine von den rechten Sozialrevolutionären gegründete Gegenregierung zu der von den Bolschewiki kontrollierten Sowjetregierung in Moskau, ansässig im südrussischen Samara.

Das zweite Buch des Romans beginnt mit der Ankunft im Ural, wo Juri Schiwagos Familie Zuflucht sucht auf dem verlassenen Landgut Warykino. Dort lebt der frühere Verwalter Awerki Mikulizyin, der die Familie nur widerstrebend aufnimmt. Er steht als Sozialrevolutionär und Mitglied der Konstituierenden Versammlung selber unter Druck. In der benachbarten Stadt Jurjatin trifft Juri Lara wieder und beginnt ein Verhältnis mit ihr, während seine Frau Tonja schwanger mit ihrem zweiten gemeinsamen Kind ist. Noch ehe sie entbindet, wird Juri von roten Partisanen zwangsrekrutiert. Deren Anführer ist Liberius Mikulizyn, der Sohn des Verwalters von Warykino. Sein Waldheer kämpft in Sibirien gegen die Konstituierende Versammlung und den weißen General Koltschak. Schiwago wird Zeuge der allgemeinen Verrohung und Verwahrlosung durch den Bürgerkrieg.

Als der Krieg sich dem Ende nähert, desertiert Juri und schlägt sich zu Lara nach Jurjatin durch, wo er erfährt, dass seine Familie inzwischen aus Russland ausgewiesen wurde. Er bleibt bei Lara und beginnt wieder als Arzt zu arbeiten. Kamarowski erscheint; er hat einen Weg gefunden, auch für die Bolschewiki nützlich zu sein und ist immer noch einflussreich. Er warnt beide vor drohender politischer Verfolgung. Insbesondere Lara sei als Frau von Pawel Antipow alias Strelnikow in Gefahr. Die Bolschewiki würden sich nach dem Ende des Bürgerkriegs der parteilosen Offiziere entledigen und Lara drohe als Strelnikows Frau ins Visier zu geraten. Er bietet ihnen an, gemeinsam mit ihm in die Mongolei zu gehen, wo die geschlagenen Kräfte der Weißen einen eigenen Staat errichten, der vorübergehend von den Sowjets geduldet wird und in dem Kamarowski eine politische Funktion einnehmen solle. Juri und Lara lehnen ab, aber da auch Schiwago als Deserteur mit einer Verhaftung rechnen muss, gehen sie erneut nach Warykino, wo sie hoffen, unauffällig leben zu können.

Nach einiger Zeit werden sie in Warykino erneut von Kamarowski aufgesucht, der sie eindringlich warnt: Strelnikow sei erschossen worden und Laras Verhaftung stehe unmittelbar bevor. Erneut bietet er ihnen an, ihn in die Mongolei zu begleiten. Um Lara zu retten, geht Doktor Schiwago zum Schein auf das Angebot ein. Lara und ihre Tochter fahren mit Kamarowskis Schlitten vor. Juri verspricht, ihnen zu folgen, stattdessen bleibt er aber allein zurück. Wenig später begegnet ihm Pawel Antipow; er ist noch am Leben, aber er muss sich verstecken. Auf der auf der Flucht vor seinen Verfolgern ist er nach Warykino gekommen und erschießt sich dort.

Schiwago macht sich zu Fuß auf den Weg nach Moskau, wo er nach wochenlanger Wanderung völlig verwahrlost ankommt. Er verfällt körperlich, seelisch und geistig. Er arbeitet nicht mehr als Arzt und betätigt sich nur noch selten literarisch. Er lebt in Moskau wieder in dem Haus, in dem er früher gewohnt hat, ist nun aber in der Bewohnerhierarchie unterhalb des einstigen Hausmeisters angesiedelt, der ihn dies deutlich spüren lässt. Dennoch verliebt sich einer seiner Töchter in Schiwago, zieht bei ihm ein und bekommt zwei Kinder von ihm. Juri verfällt immer mehr. Schließlich taucht sein Habbruder Jewgraf wieder auf, besorgt ihm eine neue Wohnung und eine Anstellung als Krankenhausarzt. Doch am Tag, als Juri Schiwago die Stelle antreten will, stirbt er an einem Herzinfarkt. Lara erscheint am Tag seiner Beerdigung zufällig in Moskau. Gemeinsam mit seinem Halbbruder will sie Juris unveröffentlichte Manuskripte ordnen, wird aber verhaftet und landet im Gulag.

Das Buch endet mit einem kurzen Epilog. Während des Zweiten Weltkriegs treffen sich Juri Schiwagos engste Freunde Mischa Gordon und Nika Dudurow wieder. Sie erzählen sich von ihrer Lagerhaft im stalinistischen Russland und treffen eine verwaiste junge Frau, in der sie die gemeinsame Tochter von Juri und Lara erkennen. Am Schluss des Buches stehen die Gedichte Juri Schiwagos.

Erzählstruktur

Diese Zusammenfassung ist eine grobe Beschränkung auf die wesentliche Handlung und die wichtigsten Figuren. Tatsächlich ist der Roman mit Personen und angerissenen Erzählsträngen überfrachtet. Dabei ist die Gesamterzählung so angelegt, dass nahezu alle auftauchenden Figuren im weiteren Verlauf der Handlung noch mal eine Funktion übernehmen. Das Buch ist daher angefüllt mit kaum glaubhaften Zufällen und unwahrscheinlichen (Wieder-)Begegnungen, in denen alles auf einander bezogen ist und alles mit jedem in Verbindung steht. Pasternak entfaltet somit einen in sich geschlossenen Mikrokosmos des revolutionären Russlands.

Der Entwurf eines Mikrokosmos‘, anstelle eines Ausschnitts, ist der Versuch, ein Phänomen vollständig abzubilden. Die literarische Ausgestaltung eines Mikrokosmos erweckt also den Eindruck einer beabsichtigten Totalität. Pasternak will keinen Ausschnitt des revolutionären Geschehens in Russland abbilden, sondern das ganz große Sittengemälde der russischen Revolution. Dazu passt, dass die Handlung nicht an einem Ort verweilt, sondern sich nahezu über ganz Russland erstreckt. Juri Schiwago wächst zwar in Moskau auf und lebt dort mit seiner Familie. Von den revolutionären Umwälzungen hört er aber an der Front in Galizien während seines Einsatzes als Feldarzt im Ersten Weltkrieg. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs, flieht er mit seiner Familie in den Ural; als er in er die Kämpfe miteinbezogen wird, zieht er mit den Partisanen nach Sibirien. Die Handlung spielt zumeist nicht an jenen Orten, an denen sich die Schlüsselereignisse des bolschewistischen Umsturzes und des Bürgerkriegs zugetragen haben. Es geht Pasternak nicht darum, die Zentren der Macht und die dort relevanten Akteure zu thematisieren, sondern die Auswirkungen von deren Handeln auf das Land und seine Bewohner zu beschreiben – einer dieser Bewohner ist Juri Schiwago.

Folgerichtig verzichtet Pasternak darauf, historisch entscheidende Akteure zu Figuren in seinem Roman zu machen, so wie dies zum Beispiel als erzählerisches Prinzip in Tolstois Krieg und Frieden der Fall ist, das die Schiwagos einander vorlesen, als sie im Ural Zuflucht vor der Revolution suchen. Im Gegenteil: Alle handelnden Personen in Doktor Schiwago sind politisch von minderer Bedeutung, einzig der kommunistische Warlord Strelnikow und der Partisanenführer Liberius Mikulizyn werden als politisch relevante Figuren gezeichnet. Sonst taucht kaum jemand auf, der `aktiv Geschichte schreibt´. Pasternak schildert also umfänglich die Verwerfungen und die Verrohung, ohne dass diejenigen, die sie als herausragende Exponenten des revolutionären und konterrevolutionären Prozesses wesentlich bewirkt haben, zu Figuren seines Romans werden.

Ein wesentlicher Handlungsfaktor innerhalb Pasternaks Geschichtsmikrokosmos ist das jeweilige Auftreten von Viktor Kamarowski. Seine Intervention treibt die Geschichte voran. Er ist am Tod von Juris Vater beteiligt, sein verhängnisvolles Handeln sorgt für die erste Begegnung von Juri und Lara. Sein erneutes Erscheinen nach dem Bürgerkrieg ist ausschlaggebend für die endgültige Trennung von beiden. Seine Figur wird ohne jegliche Ambivalenz gezeichnet. Juri und Lara schreiben ihm alles Schlechte zu, gleichwohl bleibt sein unheilvoller Einfluss auf beide durchgehend erhalten. Kamarowski erscheint wie die Verkörperung der Rücksichtslosigkeit des alten Russlands – die auch nach der Revolution ihr Unwesen treibt. Die Bolschewiki, eigentlich angetreten, um die Kamarowskis dieser Welt zu vernichten, arrangieren sich mit ihm, während sonst fast alle anderen wichtigen Figuren des Romans zu Opfern ihrer Verfolgung werden.

Kamarowski ist so etwas wie der der böse Geist der Erzählung. Falls die Geschichte auch einen guten Geist hat, dann ist dies Juri Schiwagos Halbbruder Jewgraf. Immer kreuzt er zufällig und gegen jegliche Wahrscheinlichkeit die Wege Juri Schiwagos und unterstützt ihn so gut er kann. Jewgraf ist ein einflussreicher Bolschewik, der seinem Halbbruder und dessen Familie mit Lebensmitteln, Wohnraum und guten Ratschlägen zur Seite steht. Auf seine Intervention hin verlässt Schiwagos Familie Moskau und reist in den Ural. Er ist es auch, der Juri Schiwago kurz vor dessen Tod eine Wohnung und eine Anstellung als Arzt verschafft. Der große Einfluss, den er auf das Leben seines Halbbruders und damit auf die Handlung des Buches hat, steht in direktem Widerspruch zu seiner nur schemenhaft gezeichneten nebulösen Gestalt, die darum geradezu irreal wirkt.

Doch weder die wenigen Mächtigen noch die vielen Getriebenen in dem Buch agieren und reden in den Passagen, in denen sie im Buch zu Wort kommen, explizit politisch. Das ganze Buch handelt vom politischen Geschehen, von der Revolution, ohne dass an irgendeiner Stelle des Buches prägnant argumentiert oder gar agitiert würde. Schiwago schwingt sich mehrfach zu Tiraden wider dem Bolschewismus auf, doch bleibt seine Rede in diesen Passagen bezeichnend abstrakt, naiv und geradezu unverständlich. In diesem Buch, das vor allem von Politik handelt, werden keine politischen Argumente verhandelt. Wenn die jeweiligen Protagonisten von Politik reden, was oft passiert, dann reden sie nicht als Politiker, sondern als Mensch. Pasternak geht es um die Auswirkungen, die die Politik auf den Menschen und das Menschliche hat.

Während im ersten Buch die Erlebnisse der verschiedenen Hauptfiguren parallel erzählt werden, vereinheitlicht sich die Handlung im zweiten Buch auf das Leben Juri Schiwagos. Das zweite Buch des Romans spielt fast ausschließlich während des russischen Bürgerkriegs. Verschiedenen Stränge werden also aufgenommen, die im Bürgerkrieg zu einer großen Erzählung verschmolzen werden. Somit erhält der Bürgerkrieg auf der formalen Ebene ein besonderes Gewicht. Schiwago versucht sich den Auswirkungen der Revolution zu entziehen, indem er mit seiner Familie vor den politischen Auseinandersetzungen in die Provinz flieht. Doch auch dort ereilt ihn der inzwischen im ganzen Land wütende Bürgerkrieg. Als er zwangsrekrutiert wird, zieht er mit den roten Partisanen durch Sibirien. Doch erlebt man ihn dort wie im gesamten Roman nicht als Handelnden, sondern vornehmlich als einen, der die Handlungen anderer beschreibt. Faktisch erfüllt er für den Leser die Funktion des Beobachters, der die Zustände des Krieges am eigenen Leib erlebt. Nicht der Held der Erzählung agiert, nicht er macht Geschichte, sondern die Geschichte in Gestalt des Bürgerkriegs macht sein Schicksal. Der Krieg wird somit zum Hauptakteur.

Also ist der große Handelnde, der wesentliche Akteur in diesem Roman der Krieg. Der Bürgerkrieg, der den weitaus größten Teil der Erzählung für sich beansprucht, ist das, was die meisten Handlungen im Buch veranlasst. Indem er geschildert wird in der Lebensgeschichte eines Nicht-Handelnden, der vom Krieg hin- und hergeworfen sein Schicksal widerwillig von demselben bestimmt sieht, wird der Krieg in seiner monströsen Aktivität offenbar. Dabei geißelt Pasternak den Krieg nicht in pazifistischer Manier, er beschreibt nicht einmal Kampfhandlungen. Und dennoch widmet er sich im zweiten Buch des Romans in aller Ausführlichkeit und in aller Beiläufigkeit den Auswüchsen des Bürgerkrieges.

Die schrecklichen Folgen, die der Bürgerkrieg für das Land hatte, werden nicht explizit benannt. Die Abermillionen Toten werden nicht erwähnt, sondern in beiläufigen Schilderungen werden die Verwahrlosung und die Verrohung der Gesellschaft in gewissermaßen anekdotischer Weise erzählt: Die Volkstümlichkeit der Truppe jenseits der Ideologie, die Selbstverständlichkeit animistischer Ritualmagie inmitten einer religionsfeindlichen Armee, die zusammengestückelte Uniform-Kleidung, die politische Gleichgültigkeit der Rekruten, die Disziplinlosigkeit der Soldaten, der Alkoholmissbrauch, der Hunger, die Ratten- und Mäuseplagen, die grausame Verstümmelung eines Rotarmisten als Racheakt der Weißen für Kriegsverbrechen der Roten, der grausame Mord des verrückt gewordenen Rotarmisten an seiner eigenen Familie, der ein kleines Kind totbeißende Räuber,… Anhand vieler kleiner Einzelschicksale beschreibt Pasternak die Auswüchse des Krieges. Er schildert die ständigen Verwerfungen und Grausamkeiten, die aber oft nicht direkt politisch motiviert sind, sondern der allgemeinen Anarchie des Krieges entspringen.

Der Krieg ist die Auswirkung von Revolution und Konterrevolution und in dieser Hinsicht interessiert er Pasternak. Der Rahmen des Romans wird nicht durch den Krieg, sondern durch die Revolution gesteckt. Dies wird deutlich, wenn man sich die Behandlung von Zeit(geschichte) in dem Roman betrachtet. Diese Behandlung ist von einer Konzentration auf die revolutionär bedeutsamen Phasen geprägt. Wenn Pasternak also den Krieg so eingehend behandelt, schreibt er ihm eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Revolution zu. Der Roman hat also nicht den Krieg als solchen zum Inhalt, sondern die Revolution, die sich wesentlich – und das führt zum Kern der Pasternakschen Sicht auf die Revolution – in der Gestalt des Krieges manifestiert. Die Liebesgeschichte von Juri Schiwago und Larissa Antipowa bildet die Vordergrundhandlung einer Auseinandersetzung mit der revolutionären Umgestaltung Russlands. Das Zentrum dieser Umgestaltung sieht Boris Pasternak im Bürgerkrieg. Dies verdeutlicht sich durch die Struktur des Buches, insbesondere durch die ungleichmäßige Behandlung von Zeit.

Die Komprimierung und Dehnung von Zeit in der Schilderung der Handlung

Was beim Lesen des Buches auffällt, ist die ungleichmäßige Behandlung von Zeit(geschichte). Während in einigen Kapiteln mehrere Jahre rasant übersprungen werden, nehmen sich andere Kapitel ausgiebig Zeit, die Entwicklung von Wochen und Monaten zu schildern. Das Buch schreitet in der Schilderung der Lebensgeschichte von Juri Schiwago und Lara Antipowa keineswegs gleichmäßig voran, sondern weist bestimmten Lebensphasen deutlich mehr Gewicht zu als anderen.

Der Roman ist gegliedert in zwei Bücher; das erste Buch umfasst sieben Kapitel bzw. Teile. Das zweite Buch besteht aus zehn Teilen, wovon acht Teile die Lebensgeschichte Juri Schiwagos schildern; die letzten beiden Teile beinhalten einen kurzen Epilog und die Gedichte Schiwagos.

Der erste Teil reicht von 1901 bis 1905, während der zweite Teil ausschließlich im Revolutionsjahr 1905 spielt, das somit deutlich mehr Gewicht erhält als die Jahre unmittelbar davor und danach. Der dritte Teil erstreckt sich von 1906 bis 1911, der vierte von 1911 bis zur Februarrevolution 1917. Die Monate, in die die Oktoberrevolution und der Ausbruch des Bürgerkriegs fallen, beanspruchen im Roman deutlich mehr Raum: Die Teile fünf, sechs und sieben spielen im Revolutionsjahr 1917 bis zum Frühjahr 1918 und schließen das erste Buch ab.

Während das erste Buch des Romans einen Zeitraum von 1901 bis 1918, also 17 Jahre, abdeckt, werden im zweiten Buch, das ungefähr den gleichen Umfang hat, die folgenden vier Jahre bis 1922 abgehandelt. Der zweite Teil spielt somit nahezu vollständig in der Zeit des russischen Bürgerkriegs.

Dann folgt der mit dem Titel „Schluss“ überschriebene 15. Teil, in dem die Erzählung von 1922 bis zu Juri Schiwagos Tod im Jahr 1929 rast. Dahinter ein kurzer Epilog, der im Jahr 1943 spielt. Innerhalb des Epilogs ein erneuter Zeitsprung, „fünf oder zehn Jahre waren vergangen“. Also wird das Ende der Prosahandlung vage in das Jahr 1948 bzw. 1953 verlegt. Abgeschlossen wird das Buch dahinter von den Gedichten Schiwagos.

Die Dehnung oder Komprimierung der Handlung des Buches orientiert sich also an den geschichtsmächtigen Jahren der Revolution. Die Revolutionsjahre 1905, 1917 und 1918 – 1922 werden deutlich ausführlicher behandelt. Das Jahr 1929 erhält zudem eine herausgehobene Stellung, weil es von Pasternak als Todesjahr Juri Schiwagos gewählt wurde. Auch 1943 sowie „fünf oder zehn Jahre“ danach sind durch ihre Platzierung am Ende der Prosahandlung exponiert und erlangen so eine besondere Bedeutung. Was hat es im Einzelnen mit diesen Jahren auf sich?

1905 und 1917

Innerhalb des ersten Buches verdichtet sich die Erzählung also in den Revolutionsjahren 1905 und 1917. Aber nur die Erzählung verdichtet sich, die Handlung keineswegs. Diese ist in der Zeit zwischen den Revolutionsjahren nicht minder gedrängt: Laras Mutter unternimmt einen Selbstmordversuch, Lara will Kamarowski töten und verübt stattdessen ein Attentat auf den Staatsanwalt Kornakow. Lara heiratet Pawel und wird schwanger. Pawel meldet sich freiwillig zur Armee und landet in Gefangenschaft. Juri und Tonja heiraten und bekommen ein Kind, Juri wird zur Armee eingezogen und verwundet.

Die persönlichen Erlebnisse der beiden Hauptfiguren Juri und Lara sind in den Jahren 1905 und 1917 keineswegs gravierender, werden aber deutlich ausführlicher erzählt. Während vorher die Handlung durch die Jahre fliegt, vollzieht sich die Zeit in den Jahren 1905 und 1917 gewissermaßen in Zeitlupe, was offenbar nicht mit den in diese Zeitspanne fallenden biografisch bedeutsamen Ereignissen im Leben Juris und Laras zu erklären ist, sondern mit den schicksalhaften Jahren des Landes, in dem sie leben.

Nach der Niederlage im Krieg gegen Japan 1905 war die Zarenregierung stark geschwächt, woraufhin sich die jahrhundertelang aufgestauten gesellschaftlichen Widersprüche in Demonstrationen, Streiks und Aufständen entluden, denen die Regierung einerseits mit großer Härte, andererseits mit vorgetäuschtem Reformwillen begegnete. Anstelle einer gebündelten und zentral koordinierten Vorgehensweise, kam es zu spontanen Bauernaufständen oder dem großen Eisenbahnerstreik im Oktober 1905. Im Oktobermanifest von 1905 ging der Zar auf einige Forderungen der unzufriedenen Bevölkerung ein und bewilligte demokratische Reformen, nur um diese nach und nach wieder zurückzunehmen, sobald sich das Zarenregime militärisch wieder konsolidiert hatte.

Das Unvermögen des Zaren und der Aristokratie den klassenübergreifenden Unmut der Bevölkerung durch dauerhafte und wirksame Reformen zu besänftigen, führt direkt zu den erneuten Revolutionen im Jahre 1917, als das Zarenregime in der kriegerischen Auseinandersetzung mit einem äußeren Feind wieder seine Schwäche offenbart. Im Roman sind es die revolutionären Eisenbahner Pawel Ferapontovitsch Antipow und Kiprijan Tiwersin, die diesen Zusammenhang verkörpern. Pawel Ferapontovitsch Antipow muss nach dem Eisenbahnerstreik in die Verbannung und lässt seinen Sohn Pawel Antipow bei den Tiwersins aufwachsen. Die gesamte Familie entwickelt ein ausgeprägtes, von tiefen Ressentiments gegenüber der Bourgeoisie erfülltes revolutionäres Bewusstsein, dass sie an Pawel Antipow weitergeben. Im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution von 1917 legt Pawel Antipow sich den Kampfnamen Strelnikow zu, unter dem er als unbarmherziger Militärführer der Roten Bekanntheit erlangt. Sein Vater Pawel Ferapontovitsch Antipow und sein Ziehvater Kiprijan Tiwersin werden ihrerseits zu gefürchteten Mitgliedern im Revolutionsgerichtshof von Jurjatin.

Obwohl sich die Zarenregierung nach den Ereignissen von 1905 wieder erholte und wieder an Zustimmung in der Bevölkerung gewann, sank ihr Ansehen angesichts des blutigen und für Russland wenig erfolgreich verlaufenden Ersten Weltkriegs rapide. Zu den circa zwei Millionen Kriegstoten in Russland kamen eine Lebensmittelkrise und Preissteigerungen, was vor allem in den Städten zu Streiks und Demonstrationen führte. Anders als 1905 solidarisierte sich die Armee mit den Aufständischen und der Zar musste im März abdanken.

Die daraufhin eingesetzte Provisorische Regierung führte den Krieg gegen Deutschland und Österreich weiter, was ihren Rückhalt in der Bevölkerung stark schwächte. Pasternak schildert dies in dem Kapitel Abschied vom Althergebrachten ausführlich. In der Nähe der fiktiven Kleinstadt Meliuzejewo, wo Schiwago nach seiner Verwundung im Lazarett liegt, beginnen die kriegsmüden Soldaten zu meutern, unzufrieden, dass die neue Regierung weiterhin von ihnen zu kämpfen und zu sterben verlangt. Außerdem streben sie nach einer Aufhebung der Klassengegensätze. Zu ihrer Entwaffnung herbeigerufene Kosaken schließen sich ihnen an. Der von der provisorischen Regierung zu den Soldaten gesandte Kommissar, der die Meuterer zur Wiederaufnahme des Kampfes gegen die Deutschen bewegen will, wird gelyncht.

Als Juri Schiwago nach Moskau zu seiner Familie kommt, ist der Umschwung immer weiter fortgeschritten. Juri sieht den Sieg des Sozialismus als unvermeidlich. Die sich nun vollziehenden politischen Ereignisse werden im Kapitel angedeutet: In den Sowjets von Moskau und Petrograd haben die Bolschewiki die Mehrheit. Sie bekämpfen die Provisorische Regierung, um von der politischen zur sozialen Revolution fortzuschreiten. Im Juli kommt es zum Aufstand der Bolschewiken in Petrograd, der zunächst niedergeschlagen wird. Im September droht ein Putsch des konservativen Generals Kornilow, im Oktober schließlich gelingt es den Bolschewiken, mit dem Sturm aufs Winterpalais die Provisorische Regierung zu stürzen und die Macht an sich zu reißen.

Auch hier verzichtet Pasternak auf die explizite Schilderung politisch-historischer Prozesse, sondern beschränkt sich auf deren Auswirkungen im Leben Juri Schiwagos. Auf der Handlungsebene des Romans äußert sich der politische Umschwung somit in zweierlei Hinsicht. Zum einen in der Beschreibung des ökonomischen Widerhalls der politischen Umwälzungen: In der Anarchie der Revolutionswirren bricht in Moskau das Versorgungssystem zusammen, was zur Folge hat, dass Juri und seine Familie hungern und wegen der schlechten Ernährung erkranken. Zum anderen in dem Entschluss, Moskau aus Angst vor den Bolschewiki zu verlassen und Zuflucht im Ural zu suchen.

1918 – 1922

Den Jahren 1918 bis 1922 sind mit Abstand die meisten Seiten gewidmet. Mehr als die Hälfte des Buches handelt in dieser Zeit. Also jenen Jahren, in denen sich der russische Bürgerkrieg abspielte, der somit eindeutig im Zentrum der Handlung steht. Die bolschewistische Revolution wurde nicht gegen den Zaren durchgeführt, sondern von radikalen Sozialisten gegen gemäßigtere Sozialisten. Kurz nach dem Sturm auf das Winterpalais wurde die Konstituierende Versammlung gewählt, in der die sozialistischen Parteien, allen voran die rechten Sozialrevolutionäre, eine überragende Mehrheit gewannen. Die Bolschewiki stellten nur die zweitstärkste Fraktion und sie handelten entsprechend. Im Januar 1918 lösten sie per Dekret die Konstituante nur einen Tag nach der ersten Sitzung auf. Als Reaktion gründeten die rechten Sozialrevolutionäre im Sommer desselben Jahres eine Gegenregierung in Samara. Diese verbündete sich mit der Tschechoslowakischen Legion, die wiederum mit dem monarchistischen Befehlshaber der Weißen, Admiral Alexander Koltschak, zusammen kämpfte. Durch die Dynamik des Krieges wurden antizaristische Sozialisten also defacto zu Bundesgenossen reaktionärer Militärs.

So gewinnen auf beiden Seiten die radikalsten Kräfte die Oberhand. Das simple Faktum der gewalttätigen Auseinandersetzung, des Krieges, erzwingt den Sieg der Radikalsten. Denn um im Krieg erfolgreich zu sein, muss man entschlossen, gut organisiert und rücksichtslos sein. Im zweiten Buch sind es vor allem die dem kommunistischen Militärführer Strelnikow gewidmeten Passagen, die die brutale Kriegsführung der Roten Armee widerspiegeln. Strelnikow, dessen Charakterisierung an Leo Trotzki gemahnt, kämpft gegen die Weißen mit aller Entschlossenheit, wobei er auch Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung in Kauf nimmt. Aber weil er nicht zur Partei gehört und die Bolschewiki nicht die Absicht haben, die Macht mit irgendwem zu teilen, ereilt ihn letztendlich das gleiche Schicksal, dass er anderen bereitet hat, die sich ihm im Kampf um Sieg und Macht entgegengestellt haben. Es ist die vom Krieg geforderte und geförderte unbarmherzige Entschlossenheit, die die Bolschewiki mehr als alle anderen revolutionären Kräfte verkörpern, die ihnen letztendlich die Macht bringt. Während Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Anarchisten allenfalls regionale Macht entfalten können, erweisen sich die Bolschewiki als die im Kampf effektivste Truppe, nicht zuletzt durch ihre militärische Realpolitik: Die Wiedereinführung militärischer Ränge und Hierarchien, die Zwangsrekrutierung von Soldaten und die Zähmung der aufrührerischen Landbevölkerung durch Geiselnahmen. Zudem bedienen sie sich beim Aufbau der Roten Armee und des Staates der Spezialisten, auch wenn diese zu den Exponenten des alten Systems gehören wie der im Roman als Verkörperung zaristischer Korruption und Verdorbenheit gekennzeichnete Kamarowski.

Der Krieg fordert und fördert also einen rücksichtslosen und autoritären Politikstil. Somit wird der Krieg als solches geschichtsmächtig. In einer demokratischen Auseinandersetzung hätten sich weder die Bolschewiki noch die reaktionären weißen Generäle als die führenden Exponenten der revolutionären bzw. konterrevolutionären Fraktionen etabliert. Aber indem die Auseinandersetzung ins Gewalttätige, in den Krieg abdriftet, werden hier, allein durch die Fliehkräfte einer bewaffneten Auseinandersetzung, die Radikalsten zu den Erfolgreichsten. Dass sich auf Seiten der Befürworter einer sozialistischen Umgestaltung des Landes die Bolschewiki durchsetzen, liegt nicht daran, dass sie nach den Wahlen die stärkste Fraktion stellen, sondern weil sie die Entschlossensten sind – und die Rücksichtslosesten. Somit werden die Bolschewiki zu den anerkannten Vertretern der Roten und nicht ihre sozialistischen Wettbewerber. Ebenso erringen die Radikalen auch bei den Weißen die Vorherrschaft: Die reaktionären Generäle werden die wichtigsten militärischen Antipoden der nun bolschewistisch angeführten Revolution und nicht die von gemäßigten Sozialisten geführte Konstituante.

Im Roman wird dieser Konflikt vor allem durch die Familie Mikulizyn verkörpert. Juri Schiwago und seine Familie fliehen aus Moskau und finden Zuflucht bei Awerki Stepanowitsch Mikulizyn, dem früheren Verwalter des Guts Warykino, einem Sozialrevolutionär und Mitglied der Konstituierenden Versammlung. Dessen eigener Sohn Liberius Mikulizyn ist Anführer einer roten Partisanentruppe, die die Konstituante bekämpft. Auf dessen Befehl wird Juri Schiwago als Arzt von der Partisanentruppe zwangsrekrutiert und zieht mit ihr nach Sibirien. Drei Teile schildern seine Erlebnisse bei den Partisanen in Sibirien und den narzisstischen Charakter des Partisanenführers Liberius, bei dem nie ganz klar ist, ob er dem Sozialismus zum Sieg verhelfen oder seine eigene Macht erweitern will. Einerseits sorgt er für ideologische Schulungen seiner Truppe, andererseits ist er unverhohlen eitel und nutzt die ihm durch den Krieg zuwachsende Befehlsgewalt, um seine politischen Konkurrenten aus dem anarchistischen Lager innerhalb der Partisanenschar zu eliminieren.

Doch Pasternaks Roman ist keine eindeutige Anklage der Bolschewiki und des von ihnen angezettelten Bürgerkriegs. Der Roman ist vielmehr eine literarische Bestandsaufnahme der Revolution und somit in gewisser Weise auch eine Würdigung der historischen Bedeutung des Krieges. Denn gerade durch ihre entschlossene Realpolitik holen sich die Bolschewiki im Bürgerkrieg die Legitimation vor dem Volk und der Geschichte, die ihnen bei den Wahlen versagt blieb. Das Volk folgt ihnen; die Arbeiter und Bauern ziehen mit ihnen in die Revolution und damit in den Krieg, was Pasternak ausführlich beschreibt. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Bolschewiki war paradoxerweise die Kriegsmüdigkeit des russischen Volkes, bei dem sie auf großen Zuspruch stießen mit ihrer Forderung nach einer Beendigung der russischen Teilnahme am Ersten Weltkrieg, der die Russen bereits zwei Millionen Tote gekostet hatte. Dennoch stützte sich das Land danach in den blutigen Bürgerkrieg, dem am Ende acht bis zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. Offenbar wurden hier Ziele verfolgt, für die es sich aus Sicht der Russen zu kämpfen lohnte.

1929

Juri Schiwago stirbt 1929 an einem Herzinfarkt. Warum lässt Pasternak seinen Helden ausgerechnet in diesem Jahr sterben und nicht, was nach der Schilderung seines Schicksals viel naheliegender erscheint, zum Ende des Bürgerkriegs? Weil es Pasternak eben nicht um den Bürgerkrieg allein geht, sondern um die Entwicklung der Revolution. 1929 ist das Jahr der endgültigen Inthronisierung Stalins als Alleinherrscher in der Sowjetunion. Bis dahin tobte im Politbüro ein erbitterter Machtkampf. 1927 gelang es Stalin, die linke Opposition mitsamt der prominenten Parteikader Sinowjew, Kamenew, Radek und vor allem Leo Trotzki innerhalb der Kommunistischen Partei auszuschalten. Trotzki, als Oberkommandierender der Roten Armee im Bürgerkrieg, als bedeutender Theoretiker und enger Vertrauter Lenins eigentlich dessen natürlicher Nachfolger, beharrte auf der Notwendigkeit der Weltrevolution als Überlebensbedingung eines sozialistischen Russlands. Er wurde durch das Ausbleiben weiterer kommunistischer Umstürze, vor allem in Deutschland, politisch massiv geschwächt. Stalin hingegen erwies sich mit seiner These vom Sozialismus in einem Land als Politiker, dessen theoretische Konzeption von der Realität bestätigt wurde.

Im Anschluss vollzog Stalin seinerseits einen Linksruck, wobei die Partei ihm folgte: 1927 wurde auf Beschluss des Zentralkomitees die Neue Ökonomische Politik abgeschafft und 1928 die Kollektivierung der Landwirtschaft eingeleitet. Nikolai Bucharin, der nach anfänglichem Zögern die NÖP unterstützt hatte, wurde nun zum rechten Abweichler. Stalin wandte sich nunmehr direkt gegen die sogenannte Rechtsopposition um Rykow und Bucharin, seinen größten noch verbliebenen innerparteilichen Rivalen. 1929 wurde Bucharin aus dem Politbüro und aus dem Vorsitz der Komintern entfernt. Damit war der letzte ernsthafte Herausforderer in der Kommunistischen Partei ausgeschaltet und die Diktatur Stalins vollkommen. 1929 kommt also der innerparteiliche Kampf zum Erliegen und der real existierende Sozialismus hatte nun jene Gestalt angenommen, die er fürderhin in der Sowjetunion und den sich an ihr orientierenden Staaten behalten sollte: die Diktatur des Proletariats gestaltet sich als Diktatur der Kommunistischen Partei, die wiederum dem Diktat des Generalsekretärs als defacto Alleinherrscher mit monarchischer Machtfülle unterworfen ist. Dieser Prozess ist 1929 abgeschlossen.

Die Erstarrung des revolutionären Prozesses zur Diktatur verläuft allmählich. Dieser Prozess vollzieht sich in Etappen, vom Ende des Bürgerkriegs 1922 bis zum Ende des Jahrzehnts. In dieser Periode lässt Pasternak seinen Helden verfallen. Eine Ursache führt der Autor nicht an; vordergründig scheint der Abstieg durch die Trennung von Lara verursacht, hintergründig drängt sich ein Zusammenhang mit der politischen Entwicklung Russlands auf. In dem Maße, in dem das revolutionäre Russland sich der Diktatur annähert, indem die Reste von Demokratie und Meinungsfreiheit immer weiter beseitigt werden, degeneriert Juri Schiwago: Er praktiziert nicht mehr als Arzt, er publiziert kaum noch als Schriftsteller, sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich, sein soziales Ansehen sinkt herab – er verkümmert körperlich, sozial und geistig. Schließlich stirbt Doktor Schiwago, dessen Namen im Russischen das „Lebendige“ bedeutet, genau zu der Zeit, als sich in der politischen Entwicklung der Sowjetunion der Tod des freien und unabhängigen Denkens manifestiert.

1943 – 1953

Im Epilog wird die Handlung wieder aufgenommen. Juri Schiwagos enge Freunde Mischa Gordon und Nika Dudurow treffen 1943, nach der Schlacht am Kursker Bogen aufeinander. Es war die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs und die größte Panzerschlacht der Geschichte. Die Schlacht bei Kursk war der endgültige Wendepunkt im Krieg; danach sind die Deutschen nur noch in der Defensive und die Rote Armee rückt unablässig vor. Es war zum damaligen Zeitpunkt der größte militärische Erfolg des Kommunismus.

Der andere Grund für die Wiederaufnahme der Erzählung im Jahr 1943 ist der dadurch ermöglichte Vergleich zwischen den Weltkriegsjahren und dem Stalinterror. Mischa Gordon und Niko Dudurow waren beide als Häftlinge im Gulag gelandet. Den Vernichtungskrieg der Deutschen, der nach konservativen Schätzungen 27 Millionen Sowjetbürger, überwiegend Zivilisten, das Leben gekostet hatte, wird von beiden als Erlösung im Vergleich mit der stalinistischen Verfolgung empfunden: „Erstaunlich. Nicht nur für dich als Lagersträfling, sondern für das ganze Leben der dreißiger Jahre, selbst in Freiheit, selbst wenn es einem als Universitätslehrer gar nicht schlecht ging, mit Büchern, Geld und Komfort, selbst da kam der Krieg wie ein reinigender Sturm, wie ein frischer Windstoß, wie ein Wehen der Erlösung. (…) Als der Krieg ausbrach, waren seine realen Entsetzlichkeiten, seine realen Gefahren und seine realen Todesdrohungen geradezu ein Segen (…). Die Menschen, nicht nur wie du in Zwangsarbeitslagern, sondern alle, im Hinterland und an der Front, atmeten freier, mit voller Brust, und warfen sich berauscht, mit dem Gefühl waren Glücks in den Schmelztiegel des tödlichen und rettenden Kampfes.“

Der Kollektivierung der Landwirtschaft mit ihren Millionen Hungertoten folgten die Säuberungswellen, die Partei und Gesellschaft erfassten und die die Bevölkerung des gesamten Landes bis in die höchsten Parteiämter dem Verdacht aussetzten, den Sozialismus verraten zu haben. In diesem von allgemeinem Argwohn und Denunziation geprägtem Klima der Angst war die ständige politische Positionierung gefordert. Um nicht selbst ins Visier der Verfolger zu geraten, war die Distanzierung von engsten Freunden und nächsten Verwandten erforderlich, wenn diese in den Verdacht geraten waren, Feinde des Sozialismus zu sein. Neben all der Grausamkeiten und den vielen Toten, die diese Zeit gekostet hat, ist es gerade dieser Zustand der permanenten Beklemmung und der Scham über den Mangel an persönlicher Zivilcourage, also die allgemeine Verkümmerung der Seelen, der die sowjetische Gesellschaft der Vorkriegsjahre kennzeichnet. Und ein wesentlicher Zweck des Epilogs ist es, das Urteil über diese Zeit, über die Stalinjahre zu fällen.

Im letzten Abschnitt des Epilogs gibt es einen weiteren Zeitsprung: „Fünf oder zehn Jahre“ danach sitzen Nika Dudurow und Mischa Gordon wieder in Moskau beisammen und blättern in den Schriften ihres verstorbenen Freundes Juri Schiwago: „Aufklärung und Befreiung, die sie nach dem Krieg erhofft hatten, waren nach dem Sieg ausgeblieben, und doch schwebte in den Nachkriegsjahren eine Vorahnung der Freiheit in der Luft und bildete ihren einzigen historischen Gehalt.“ Zehn Jahre nach 1943 wäre 1953. Das Todesjahr Stalins.

Der Krieg als Folge der Revolution und der revolutionäre Staat als Folge des Krieges

Von all dem steht in dem Buch nichts. Und dennoch handelt es davon. Die Behandlung von Zeit(geschichte) gibt nicht nur einen Nachweis des politischen Themas der Revolution, sondern enthüllt auch Pasternaks Sicht auf dieselbe. Der politischen Entwicklung in den Jahren zwischen 1922 und 1929 und den in diese Phase fallenden Machtkämpfen innerhalb der Kommunistischen Partei, an deren Ende die Alleinherrschaft Stalins steht, schenkt Pasternak nur wenig Aufmerksamkeit und demzufolge scheint er ihr auch nicht die gleiche historische Wirkmächtigkeit beizumessen wie der Bürgerkriegsepoche. Wenn das Buch bis weit in die Stalinzeit ausgreift und diese aber nur in kurzen Ansätzen am Ende des Buches durchklingen lässt, dann bedeutet dies, dass Pasternak diese Jahre als weniger bedeutend betrachtet. Ganz offenbar sieht er sie nur als Folge dessen, was er in seinem Roman ausführlich beschreibt: Die Revolutionsjahre und hier insbesondere die Bürgerkriegsjahre. In dieser Zeitspanne hat sich nach Ansicht Pasternaks das Schicksal Russlands entschieden.

Die Revolution in Praxis vollzieht sich im russischen Bürgerkrieg; sie beschränkt sich keineswegs auf die Erstürmung des Winterpalais‘ in Sankt Petersburg. Die Revolution realisiert sich in der Auseinandersetzung mit der Konterrevolution, also im Bürgerkrieg. Nach der Februar- und auch noch nach der Oktoberrevolution 1917 ergab sich wie bei revolutionären Prozessen üblich ein Machtvakuum, resultierend aus dem Nebeneinander von verschiedenen Institutionen, die ihrerseits die Repräsentation des Volkswillens und damit die Macht beanspruchten: Die provisorische Regierung, die Arbeiter- und Soldatenräte, der Rat der Volkskommissare, die konstituierende Versammlung agierten parallel, flankiert von zahlreichen weiteren Gremien, die exekutive Macht für sich deklarierten. Letztendlich wird es keines dieser Organe sein, sondern die Kommunistische Partei, die faktisch die Macht auf sich vereinigen wird.

Der Natur des Krieges folgt, dass autoritäre Strukturen, die auf Befehl und Gehorsam basieren, gefördert werden. Strukturen, die die lange Zeit im Untergrund agierenden Bolschewiki verinnerlicht hatten. Nicht zuletzt deshalb waren sie im Gegensatz zu allen anderen revolutionären Fraktionen, als einzige in der Lage, mit der weißen Konterrevolution fertig zu werden. Am Ende des Bürgerkriegs haben die Bolschewiki den reaktionären Widerstand niedergeschlagen und die revolutionäre Konkurrenz der Sozialisten und Anarchisten ausgeschaltet. Die gesamte Macht ist in ihren Händen vereinigt. Der Preis dafür war die totale Verwüstung des Landes, dem sie nun eine nach dem Vorbild der Kommunistischen Partei durch Autoritarismus und Fanatismus definierte Struktur aufprägen konnten. Pasternaks Roman erzählt davon, dass die Revolution sich in der politischen Form des Krieges vollzieht. Genau dadurch nimmt sie die Gestalt an, die ihre eigene Zukunft prägen wird, sobald sie zu politischer Institution gerinnt: als Partei und als Staat. Der Roman Doktor Schiwago schildert wie der neue sich entwickelnde revolutionäre Staat durch den Bürgerkrieg jene spezifische Gestalt gewinnt, die er fürderhin behalten wird: Eine totalitäre Diktatur.

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